Chronologie des Lebens von Said Nursi
Said Nursi (1877 – 1960)
Der islamische Gelehrte Said Nursi (1877 – 1960) wurde in Europa lange Zeit allein unter der Perspektive der türkischen Revolution der zwanziger Jahre und ihres Vorlaufes gesehen. Dabei übersah man dessen enormes Werk, das während seiner Verbannung und in den Jahren seines Gefängnisaufenthaltes entstanden ist, und Generationen von türkischen Muslimen zu einer lebendigen Auseinandersetzung mit ihrem Glaube anregte. Hierüber entstand nicht nur eine Schülergemeinschaft, die in Said Nursi ihren Lehrer sah, sondern zugleich eine Art Bewegung, die jama´at un-nur, deren Zentrum das von ihm hinterlassene Werk, das Risale-i-Nur, ist. Die wörtliche Übersetzung des Titels lautet: “Sendschreiben des Lichtes“. Hinter diesem heute ein wenig altmodisch klingenden Namen steht eine Arbeit, die lebhaft an die ebenfalls im Gefängnis entstandenen Werke Dietrich Bonhoeffers oder Alfred Delps erinnert. Alle drei bezeugten sowohl durch ihr Leben als auch ihre Arbeit ihren Glauben im Widerstand gegen die Bedrohung totalitärer Regime und regten ihre Mitwelt zugleich an, über dessen Begründung im Glauben nachzudenken.
War schon zu Nursis Lebzeiten eine breite intellektuelle Gemeinschaft entstanden, durch deren Diskurse manche der heutigen Politiker der Türkei geprägt wurden, so setzte sich das Werk selber international im Laufe der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhundertes durch. Das äußere Zeichen hierfür sind die alle zwei Jahre in Istanbul stattfindenden internationalen Said Nursi Symposien, die im letzten Jahrzehnt Nachfolger in zahlreichen islamischen Ländern fand.
Mit der Übersetzung des Risale-i Nur in die europäischen Sprachen erhielten auch Nicht-Muslime Zugang zu den Überlegungen des Reformers, so dass ein islamischer Beitrag zur Moderne zugänglich geworden ist, der wahrhaft bemerkenswert ist, denn Nursi fragt nicht danach, was die Natur- und technischen Wissenschaften leisten, sondern schlicht nach dem Sinn des menschlichen Da-Seins und seiner Begründung. Dabei bezieht er sich in radikaler Weise auf die Glaubensurkunde der Muslime, den Koran.
Obwohl Said Nursi gezwungen war seine Texte im Geheimen zu schreiben, die später aus den jeweiligen Gefängnissen geschmuggelt wurden und per Hand abgeschrieben im Lande kursierten, atmen sie die Freiheit eines unabhängigen Geistes, der sich weder zu Ressentiments noch zu Verurteilungen seiner Verfolger hinreißen ließ. Ihm ging es um den Glauben und seine Bewahrung angesichts einer Moderne, die sich gegen diesen wandte. Hiervon haben sich in den vergangenen Jahren auch Europäer ansprechen lassen.
Vorbemerkung
1. Die nachstehende kurze Biographie Said Nursis orientiert sich an der Biographie Sükran Vahides, die 1992 in Istanbul erschienen ist.
2. In ihr wird das Leben Nursis in drei große Abschnitte unterteilt:
(a) der „Alte Said“,
(b) der „Neue Said“ und
(c) der „Dritte Said“.
1877-1920 “Der Alte Said“
1877
Said Nursi wird als siebentes Kind einer kinderreichen Familie im ostanatolischen Dorf Nurs geboren.
1886
Mit ca. zehn Jahren begann Nursi seine Ausbildung an der örtlichen Medrese.
1886 – 1891
Gemäß dem damaligen Curriculum erlernt er die Grundzüge der arabischen Grammatik. Der Unterricht stellt ihn jedoch nicht zufrieden, so dass er in den folgenden Monaten immer wieder die Medresen wechselte.
1891
Schließlich traf er auf Scheich Muhammed Jalali, bei dem er eine Weile blieb.
Da er den Eindruck gewonnen hatte, dass der Unterricht reformbedürftig sei, konzentrierte sich Nursi auf wenige Schlüsseltexte und bestand – für die damalige Zeit ungewöhnlich – das Abschlussexamen innerhalb von drei Monaten. Damit vermochte er zu beweisen, dass Veränderungen notwendig waren.
In den anschließenden Diskussionen mit den Gelehrten seiner Heimatprovinz erwies sich Nursi als überlegender Gelehrter, was ihm den Ehrentitel Bediüzzaman, Wunder der Epoche, eintrug.
1892
Die Auseinandersetzung mit den Fragen der Zeit, führte ihn zur Einsicht in die Grundprobleme der Gemeinschaft der Muslime.
1893 – 1895 Bitlis
Man nimmt heute an, dass Nursi etwa zwei Jahre in Bitlis lebte, wo er vierzig – nach dem Verständnis des Medresen Curriculums – Hauptwerke auswendig lernt.
1895 – 1897 Van
Nursi gelang die Gründung einer eigenen Medrese, in der er seine Ideen einer Bildungsreform umzusetzen versuchte. Gleichzeitig las er alle erreichbaren (Lehr-) Bücher, in denen die damals bekannten Naturwissenschaften dargestellt wurden. So gewann er die Idee einer Universität, in der religiöse und naturwissenschaftliche Lehrer und Forscher gemeinsam arbeiten sollten.
Während seines Vaner Aufenthaltes wenden sich immer wieder einzelne Stämme an den jungen Gelehrten, um ihn als Mediatoren in ihren Konflikten zu gewinnen. Dabei zeichnet Nursi sich nicht nur durch persönliche Tapferkeit aus, sondern auch als Friedensstifter.
1907 Istanbul
Gegen Ende des Jahres 1907 reiste Nursi in die Hauptstadt des osmanischen Reiches, Istanbul, um dort für die Idee einer ostanatolischen Universität zu werben.
Und der bis dahin unbekannte Gelehrte aus Ostanatolien wurde in kurzer Zeit so bekannt, dass es zu einer Begegnung mit dem regierenden Sultan, Abdul Hamid II, kam.
Als im Sommer 1908 die zweite Verfassung in Kraft trat, da engagierte sich Nursi in Zeitungsartikeln und Aufsätzen für sie. So wurde er Mitglied der Ittihad-i-Muhammedi (Muhammedanische Gesellschaft für die muslimische Einheit), was ihn vor ein Kriegsgericht brachte, welches ihn jedoch frei sprach.
1910 veröffentlichte er unter dem Titel „Nutuk“ einen Sammelband mit Aufsätzen und Reden.
1910
Im Sommer dieses Jahres bereiste Nursi die ostanatolischen Stämme, um sie von der neuen Politik zu überzeugen, denn er war der Meinung, dass der Konstitutionalismus die Einheit und den Fortschritt der islamischen Welt fördern würde. Die zahlreichen Reden und Gespräche jener Monate wurden später in zwei Bänden zusammengefasst veröffentlicht: Muhâkemat (Argumentationen, 1911) und Münâzarat ( Debatten, 1913 ).
1911
Im Verlauf seiner Reise erreichte Nursi u.a. auch Damaskus, wo man ihn bittet in der Omayyadenmoschee eine Predigt zu halten, was er in fließendem Arabisch tat. Nachdem ihr Text zwei Mal nachgedruckt werden musste, erscheint ein darauf folgenden Jahr ein türkische Übersetzung.
Kaum nach Istanbul zurückgekehrt, wird er aufgefordert den Sultan auf dessen Balkanreise zu begleiten, während der man ihm die Unterstützung für die Gründung einer ostanatolischen Universität zusagt.
1912
So kommt es ein Jahr später zur Grundsteinlegung seiner Universität, der Medresetü´z-Zehra.
In den folgenden Monaten unterrichtete der inzwischen berühmte Gelehrte an seiner alten Medrese in Van.
1914
Mit Ausbruch des Ersten Weltkrieges wurde aus dem Lehrer der Befehlshaber seiner Provinz und zugleich Kommandeur eines studentischen Freiwilligen Regimentes, dessen Kern seine eigenen Studenten bildeten, mit denen er sich mehrfach u.a. bei der Verteidigung der Stadt Bitlis auszeichnet. In den Kampfpausen diktierte Nursi seinen später bekannt gewordenen Korankommentar „Ischarat-ul I’jāz“.
1916 – 1918
Schließlich wurde das Regiment von der russischen Armee gefangen genommen, und er selber in ein Lager an der Wolga verbracht, von wo ihm im Sommer 1918 die Flucht über Berlin nach Istanbul gelang.
1918 – 1920
Mit seiner Ernennung zum Mitglied des höchsten osmanischen Rates für Fragen der Bildung, des Darü´l-Hikmeti´l-Islamiye, begannen Monate intensiven Arbeitens, deren Frucht nicht nur eine große Zahl von Publikationen waren, sondern zugleich eines sozialen Engagement, das ihn u.a. Mitglied in der neuen Gesellschaft des Grünen Halbmondes werden ließ, die sich gegen die Verbreitung des Alkohols wandte.
Unter der heutigen Perspektive mag es erwähnenswert sein, dass 1920 ein Zeitungsartikel erschien, in dem sich Nursi ausdrücklich gegen die Forderung eines autonomen Kurdistan wandte.
1920 – 1950 “Der Neue Said“
1920
Mit Mitte vierzig zog sich der inzwischen so erfolgreiche Gelehrte in die Einsamkeit zurück, um nachzudenken, zu meditieren, was einen tiefen Wandlungsprozess einleitete, an dessen Ende Nursi zur Erkenntnis gelangte, dass die muslimische Welt sich in einer Krise befände. Nursis Lösung war die Rückbesinnung auf den Koran als Glaubensquelle und die bewusste Entscheidung zum Leben im Glauben. In dieser Zeit schrieb und publizierte er eine Reihe von Arbeiten in arabischer Sprache, die ins Türkische übersetzt unter dem Titel „Mesnevi-i-Nuriye“ erschienen.
1922
Nach mehrfachen Einladungen der neuen Regierung fährt Said Nursi nach Ankara, wo ihn das Parlament offiziell empfängt. Er findet soviel Resonanz, dass man ihm anbietet die eine oder andere Aufgabe zu übernehmen. Allerdings gelingt es ihm, die Abgeordneten von der Idee einer Universität in Ostanatolien zu überzeugen. Doch trotz der Bewilligung der staatlichen Fördermittel für diese Universität machen die Umstände den wirklichen Bau unmöglich.
1923 – 1925
In der für islamische Gelehrte charakteristischen Weise zieht sich der nun Fünfzigjährige aus der Politik und dem gesellschaftlichen Leben zurück, um mit einer kleinen Gruppe von Schülern zu beten und zu meditieren. Als im Februar 1925 ein religiös motivierter Aufstand ausbricht, schreibt er gegen ihn an. Dennoch stellt ihn die Regierung unter Aufsicht, „verlegt“ ob seiner Beliebtheit in den folgenden Jahren von einem Ort zum anderen.
1926 – 1935
Wie im Protest zur Tagespolitik erscheinen in diesen Jahren Abhandlungen, Briefe und längere Texte, die sich mit dem Jenseits, der Verantwortung des Menschen, seinem Glauben und der Offenbarung auseinandersetzen. Dabei wächst seine Popularität ebenso wie der Kreis seiner Schüler, was die Behörden dazu veranlasst, ihn über Klagen immer wieder ins Gefängnis zu stecken.
1936 – 1949
Während seiner langen Wanderung durch Gefängnisse und Verbannungen entstehen heimlich eine große Zahl von Arbeiten, die seine Schüler auf den unterschiedlichsten Wegen trotz aller Kontrollen erreichen und von diesen abgeschrieben werden, um danach weiter zu kursieren. Auf diese Weise entsteht ein weiter Kreis von Schülern in allen Bevölkerungsschichten.
Schließlich entlässt man ihn im Dezember 1949.
1950 – 1960 “Der Dritte Said“
1950
Die politischen Veränderungen in der Türkei bringen nicht nur eine Generalamnestie, sondern zugleich eine Freiheit, die Nursi nutzt. Ein Jahr später beschließt die Regierung endlich die von ihm so lange ersehnte Universität in Ostanatolien zu bauen. Obwohl sie nicht seiner islamischen Konzeption entspricht, begrüßt er die Entscheidung.
1956 – 1960
Erst im Juni 1956 gibt ein Gericht in Afyon das inzwischen zu dem Risale-i-Nur, dem Sendschreiben des Lichtes, herangewachsene Gesamtwerk des Gelehrten zum Druck frei.
Inzwischen sprechen seine Schüler und Außenstehende von seinem Kreis der Schüler als der „jama´at-i-nur“, der Gemeinschaft des Lichtes.
In den letzten Jahren seines Lebens reist er noch einmal zu den Orten seines Lebens. Schließlich stirbt er am 23. März 1960 in Urfa, wo ihn seine Schüler auch begraben.
In einer Nacht und Nebel Aktion am 12. Juli 1960 wird jedoch sein Leichnam auf Befehl der Militärjunta aus gegraben und an einen unbekannten Ort verbracht.
Weiterführende Literatur in deutscher Sprache:
Aries W., Ülker R. (Hrsg.): Das Bild vom Menschen. Lit, Berlin, 2009
Aries W., Ülker R. (Hrsg.): Dietrich Bonhoeffer, Alfred Delp und Said Nursi: Christentum und Islam im Gegenüber zu den Totalitarismen. Lit, Münster, 2004
Michel T.: Christlich-Islamischer Dialog und die Zusammenarbeit nach Bediüzzaman Said Nursi. Söz Basim Yayin: Istanbul, 2004
Paksu M.: Said Nursi. Die Biographie eines modernen Helden. Nesil: Istanbul, 2008
Sahinöz C.: Die Nurculuk Bewegung. Entstehung, Organisation und Vernetzung. Nesil: Istanbul, 2009
Ülker R., Aries W.: Gläubiger Bürger in der pluralen Gesellschaft – Muslime im Dialog. Lit, Berlin, 2006
Vahide S.: Ein Beitrag zu einer “Intellektuellen Biographie” Said Nursis. Söz Basim Yayin: Istanbul, 2004